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Hörspiel nach dem gleichnamigen Buch von Roland Barthes, mit Motiven aus Goethes „Die Leiden des jungen Werther“
Autorenproduktion für WDR 3
Ursendung: 19.3.2010 um 23:05 Uhr
Redaktion: Markus Heuger
Darsteller: Sebastian Blomberg (Liebender), Ludwig Trepte (Werther), Hannah Herzsprung (Lotte) u. a.

Hörspielbearbeitung, Regie und Komposition: Andreas Bick

 

 

„Fragmente einer Sprache der Liebe“ von Roland Barthes ist einer der anspruchsvollsten und geistreichsten Texte zur Philosophie der leidenschaftlichen Liebe. Barthes teilt verschiedene Gesichtspunkte der Liebe in „Gedankenfiguren“ auf, die er alphabetisch anordnet und damit eine Art Glossar der Liebe schafft. Durch die willkürliche Aufeinanderfolge von Begriffen wie Abwesenheit, Anbetungswürdig, Begegnung, Bejahung, etc. entsteht ein Text, dem keine Erzählung, keine Hierarchie und keine Entwicklung zu Grunde liegt, die Sequenzen stehen durch die alphabetische Ordnung unverbunden und gleichberechtigt nebeneinander. In jeder Szene ist bereits der gesamte Diskurs der Liebe enthalten, der durch den Rezipienten weitergedacht und fortgeschrieben werden kann. Der Liebende in Barthes’ „Fragmenten“ ist zugleich ein Spieler, Erotiker, kühler Analytiker und ein mitfühlender Verliebter. Er spricht nicht über die Liebe, er spricht mit Liebe.

 

Die „Fragmente“ sind zwar in der Ich-Form gehalten, doch um das liebende Wesen des Buches zu konstituieren, griff Barthes auf Textbruchstücke verschiedensten Ursprungs zurück. Seine wichtigste Quelle hierbei war Goethes „Die Leiden des jungen Werther“, der für Barthes zum Kronzeugen und Stichwortgeber für die leidenschaftliche Liebe wird. In dieser Hörspielbearbeitung werden daher beide Werke, Barthes’ „Fragmente“ und Goethes „Werther“, wie Folien übereinandergelegt, um in einen vielfältigen Dialog zu treten. Lotte und Werther sind hier junge Erwachsene der Gegenwart, die sich wie selbstverständlich zwischen Club, Internet und großstädtischem Alltag bewegen. Barthes’ Liebender wiederum kommentiert das Geschehen und reflektiert über die Liebe, aber auch er ist nicht teilnahmslos, sondern findet sich immer wieder als unsichtbarer Begleiter an den Orten wieder, an denen Lotte und Werther sich begegnen und Werthers unerfüllte Liebe schließlich in den Selbstmord führt.

 

Barthes schreibt in der Einleitung zu den „Fragmenten“: „Dis-cursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin-und-Her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind ‚Schritte’, ‚Verwicklungen’. Der Liebende hört in der Tat nicht auf, in seinem Kopf hin und her zu laufen, neue Schritte zu unternehmen und gegen sich selbst zu intrigieren.“ Die Idee des Diskurses als einer Bewegung zwischen verschiedenen Standpunkten wurde in diesem Hörspiel wörtlich genommen, indem ein Großteil der Szenen in den Alltag der Großstadt verlegt wurde: die Schauspieler agieren im Hauptbahnhof, der U-Bahn, Unterführungen, im Spielsalon, Club, auf einer Schauspielbühne, in Kneipen und durchqueren diese Orte beim Sprechen. Durch die Sprachaufnahmen in Alltagssituationen bekommt Barthes’ Text eine bodenständige Qualität, zufällige Tonübersprechungen und Sprünge in der Hintergrundatmosphäre tragen zu einem Gefühl von Unmittelbarkeit und Dringlichkeit bei.

 

Der Verliebte ist bei Barthes wie auch bei Goethe jemand, der außerhalb der Gesellschaft steht. Er lebt in einer „unwirklichen“ Welt, in einem Wahn, der für ihn zur Wahrheit wird, während er das, was die Leute „Wirklichkeit“ nennen, als Illusion empfindet. Dieser Liebeswahn steht potentiell im Widerspruch zu den Konventionen der Gesellschaft, er kann sogar solch destruktive Züge annehmen, dass er den unglücklich Liebenden in den Selbstmord treibt. Werther ist das literarische Paradebeispiel für diese selbstzerstörerische Energie: nach der Veröffentlichung des Romans 1774 und zum Schrecken Goethes ließen sich eine Vielzahl von jungen Männern zum Selbstmord verleiten. Sie trugen zum Suizid eine gelbe Weste und eine blaue Jacke – wie ihr Vorbild Werther, der damit ein letztes Mal in die Haut schlüpfte, in der er seine geliebte Lotte das erste Mal traf. Seitdem spricht man in der Wissenschaft vom Werther-Effekt, wenn ein medial ausgebreiteter Selbstmord zu einer Zunahme in der Suizidstatistik führt. Roland Barthes setzt dem die Frage entgegen, ob der Gedanke an Selbstmord nicht auch oft eine bequeme Form der Selbstauflösung sei: „Wenn mich so die Vorstellung überkommt zugrunde zu gehen, so liegt das daran, dass es für mich nirgendwo mehr einen Platz gibt, nicht einmal im Tode.“ In einer langen Parallelmontage endet das Hörspiel mit Werthers Weg in den Tod, während Barthes’ Liebender einen andern Weg vorschlägt: den der Hingabe, des Sich-Anheim-Gebens in das Gefühl der unglücklichen Liebe: im Diskurs dieser Liebe entdeckt der Liebende die Ekstase.

 

A Lover’s Discourse: Fragments

Radio play based on the book of the same name by Roland Barthes, with motifs from Goethe’s The Sorrows of Young Werther
Commissioned by WDR 3
First broadcast: March 19, 2010, 11:05 pm
Producer: Markus Heuger
Featuring: Sebastian Blomberg (lover), Ludwig Trepte (Werther), Hannah Herzsprung (Lotte), et al.

Adaptation for radio, director, composer: Andreas Bick

 

A Lover’s Discourse: Fragments by Roland Barthes is one of the most ambitious and intelligent texts on the philosophy of passionate love. Barthes divides various aspects of love into “figures of thought” which he orders alphabetically, creating something akin to a glossary of love. The arbitrary succession of concepts like absence, adorable, affirmation, etc. creates a text with no underlying narrative, hierarchy or development; thanks to the alphabetic ordering, the sequences stand side by side, unconnected and with equal weight. Every scene already contains the whole discourse of love, ready to be pursued and developed by the reader. The lover in Barthes’ Fragments is simultaneously a player, eroticist, cool analyst and empathetic paramour. He speaks not about love, but with love.

 

Although the “fragments” are written in the first person, Barthes constituted the book’s loving being out of material from a wide variety of origins. His most important source was Goethe’s The Sorrows of Young Werther, who for Barthes becomes the principle witness and supplier of keywords for passionate love. In this adaptation for radio, the two works – Barthes’ Fragments and Goethe’s Werther – are superimposed to create a many-facetted dialog. Here, Lotte and Werther are modern-day adults who move easily between clubs, the internet and urban everyday life. Barthes’ lover, on the other hand, comments on the action and reflects on love, but he is not entirely detached, repeatedly turning up as an invisible companion in the places where Lotte and Werther meet and where Werther’s unhappy love ultimately leads to suicide.

 

In his introduction to the Fragments, Barthes writes: “Dis-cursus—originally the action of running here and there, comings and goings, measures taken, ‘plots and plans’: the lover, in fact, cannot keep his mind from racing, taking new measures and plotting against himself.” In this radio play, the idea of discourse as a movement between various points is taken literally by locating most of the scenes in the everyday life of the city: the actors perform at Berlin’s central station, on subway platforms, in underpasses, in gaming rooms, at clubs, on a theatre stage, in bars – passing through these places as they speak. By making the recordings in everyday situations, Barthes’ text is given a down to earth quality; random jump cuts in the ambient sound contribute to a feeling of immediacy and urgency.

 

For both Barthes and Goethe, the lover is someone who stands outside society. He lives in an “unreal” world, in an illusion that becomes his truth, while what other people call “reality” he experiences as an illusion. This amorous illusion is potentially at odds with the conventions of society and may even take on such a destructive character that it drives the unhappy lover to suicide. Werther is the best literary example of this self-destructive energy: after the novel was published in 1774, to Goethe’s horror, many young men took it as a cue to commit suicide. They killed themselves wearing a yellow waistcoat and a blue jacket – like their model Werther, who dressed this way to slip one last time into the guise in which he first met his beloved Lotte. Since then, when a widely publicized suicide triggers a wave of copycat deaths, this is known as the “Werther Effect”. Roland Barthes responds by asking whether thoughts of suicide are perhaps often a convenient form of self-dissolution: In an extended parallel montage, the piece ends with Werther’s path to death, while Barthes’ lover proposes a different route: that of abandonment, of giving oneself up to the feeling of unhappy love: in the discourse of this love, the lover discovers ecstasy.